22. Januar 2015

Fachkräfte - Mehr als nur eine Frage der Menge

Kammerpräsident Gerold Reker sprach beim Jahresempfang 2015 der Kammern und der Wirtschaft in Mainz. Er machte klar, wie weit sich der jeweilige Bedarf in den einzelnen Berufen ausdifferenziert. Fachkräftebedarf, so Reker, kann nicht im Singular buchstabiert werden und ist bei Leibe nicht nur eine Frage der Menge.

Der demografische Wandel und die Digitalisierung aller Lebensbereiche machen vor den Freien Berufen und ihren Patienten, Bauherren, Mandanten und Kunden nicht halt. Hinzukommen vielfältige Integrationsprozesse, die zu bewältigen sind. Darauf machte Präsident Gerold Reker, der in diesem Jahr als Vertreter aller Freien Berufe beim Jahresempfang der Wirtschaft in der Mainzer Rheingoldhalle sprach, aufmerksam. Als Gastredner des Abends war Günther Oettinger, EU-Kommissar für digitale Wirtschaft und Gesellschaft, geladen. Mit ihm war erstmals nach zahlreichen Bundespolitikern und den Ministerpräsidenten Kurt Beck und Malu Dreyer die europäische Ebene vertreten. Reker verknüpfte das Querschnittsthema der fortschreitenden Digitalisierung, für das der Hauptredner des Abends stand, mit dem des Fachkräftebedarfes. Er machte klar, wie weit sich der Fachkräftebedarf in den jeweiligen Berufen ausdifferenziert. Trotzdem eint die Freien Berufe die Sorge um den beruflichen Nachwuchs. Im Großen und Ganzen sind die Ursachen in den unterschiedlichen Sparten - so Reker - recht ähnlich: Die fortschreitende Digitalisierung beschleunigt Entwicklungsschritte, technologische Neuerungen fordern laufende Fort- und Weiterbildung selbst in Berufen, deren Kernkompetenzen man auf anderen Ebenen erwartet. Der demografische Wandel mit sinkenden Geburtenraten und spürbaren Abwanderungsbewegungen aus dem ländlichen Raum dünnt die Basis aus. So ist beispielsweise schon heute jeder dritte rheinland-pfälzische Arzt über 60 Jahre alt. Gerade im ländlichen Raum wird es immer schwieriger, Praxisnachfolgen zu sichern. Das hat Folgen, denn eine verlässliche Infrastruktur am Ort inklusive der medizinischen Versorgung ist ein wichtiger Entscheidungsfaktor, wenn es um Abwanderung in die Stadt geht. Stadtplaner wissen, welche gewaltige Hebelwirkung Infrastruktur entfaltet. Der Mangel kann ein labiles Gleichgewicht endgültig gefährden. Die Architekten, so Reker, sehen die Herausforderungen aber weniger im Quantitativen denn Qualitativen. Technologische Neuerungen und die digitale Entwicklung beschleunigen zunehmend den Alltag in den Büros. Die nächste Welle steht mit BIM, dem Building Information Modelling, an. BIM wird nicht nur erhebliche Investitionen bei den Planungsbüros zur Folge haben, sondern auch entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen und Weiterbildungen erfordern, denn absehbar werden öffentliche Auftraggeber BIM wohl als Standard zur Projektbearbeitung einfordern. Bei den Architekten, Innen und Landschaftsarchitekten sowie Stadtplanern sind es darüber hinaus Entwicklungen zur EU-weiten Regelung der Anerkennung von Studienabschlüssen wie die Berufsanerkennungsrichtlinie, die Sorgen machen. Aktuell steht die Frage im Raum, ob nach einem fünfjährigen Hochschulstudium ganz auf die anschließende Praxiszeit verzichtet werden kann, ob sie auf ein Jahr zu verkürzen ist oder als zweijährige Ausbildungskomponente Bestand haben soll. Die rheinland-pfälzische Kammer setzt sich vehement für die Beibehaltung der zweijährigen Praxiszeit ein.

Reker machte vor diesem Hintergrund einmal mehr deutlich, dass die Ausbildung ein wichtiger Schlüssel zur Bewältigung des Fachkräftebedarfs, einer der wichtigen Zukunftsaufgaben, ist. Für Kurzzeit- oder Schmalspurausbildungen sei kein Raum, wenn es gelte, den beruflichen Nachwuchs mit optimalem fachlichem Rüstzeug auszustatten. Dazu forderte er die Unterstützung der politisch Verantwortlichen in Rheinland-Pfalz und Europa ein.

Günther Oettinger zeichnete in einer ebenso konzentrierten wie launigen Rede die Chancen, aber auch die fundamentalen Herausforderungen der digitalen Revolution auf. Seine Empfehlung an die Menschen: Bildung; an die Staaten der EU: Infrastruktur grenzüberschreitend ausbauen.

Seine Rede begann er mit einer guten bis sehr guten wirtschaftlichen Bilanz Deutschlands im Jahr 2014 und auch die Aussichten für 2015 sind nach seiner Einschätzung glänzend. Gleichzeitig betonte Oettinger, dass neben Autos aus Stuttgart, chemischen Produkten aus Ludwigshafen und Glas aus Mainz mehr und mehr auch Werte wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit auf der Europas Exportagenda stehen müssten. Wirtschaftliche Stärke ist nach seiner Auffassung eine gute Basis für außenpolitische Autorität. Genau hier sah er aber trotz der aktuell sehr guten Situation die Herausforderungen und Gefährdungen aber auch die Chancen der Zukunft.

Die Weichenstellungen der digitalen Revolution seien, so Oettinger, in den vergangenen Jahren weitestgehend an Europa vorbei gegangen. Sowohl hinsichtlich der Hard- wie der Software sei die Welt auf die USA und Asien angewiesen. Dabei maß der den Giganten der Internetwirtschaft von Amazon über Facebook und Google bis Twitter eine immense Bedeutung, Marktmacht und die fast unabwendbare Tendenz zu Monopolisierungen zu. Europa befinde sich in einer strategischen Abhängigkeit, aus der man sich dringend lösen müsse, um den nächsten Innovationssprung und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit nicht einzubüßen. Die viel zitierte „Industrie 4.0“ gebe aktuell wieder eine Chance, die es zu nutzen gelte. Aber auch Datensicherheit und die Frage nach dem Urheberrecht machten eigenständige europäische Entwicklungsanstrengungen unabdingbar.

Der Eisenbahnverkehr und der Ausbau des Straßennetzes seien in den vergangen Jahrhunderten die großen Aufgaben der Infrastruktur gewesen. Man habe jeweils Jahrzehnte für ihren Aufbau Zeit gehabt. Dies stelle sich mit der digitalen Infrastruktur, allen voran ein schnelles Breitbandnetz, anders da. Ihr Aufbau müsse innerhalb weniger Jahre geleistet werden, wenn man Entwicklungen nicht endgültig verschlafen wolle. Fortschritte bei Themen wie Datenschutz oder Urheberrecht machte Oettinger unmittelbar vom Aufbau einer europäischen Netzstrategie mit europäischen Systemen und Technologien abhängig. In seinem Schlusswort griff Dr. Engelbert Günster, Präsident der Industrie- und Handelskammer Rheinhessen, die Forderung nach einer flächendeckenden, schnellen Internetversorgung im gesamten Land auf.

Im Anschluss fanden sich die Besucher des Jahresempfangs wieder zu intensiven Gesprächen im Foyer der Rheingoldhalle ein. Aus den zwölf einladenden Kammern, aus Politik, Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien waren das rund 3.500 - 4.000 Gäste.