10. Januar 2019

Haltung und Handlung

Vizekanzler Olaf Scholz war Gastredner beim Jahresempfang der Wirtschaft
Vizekanzler Olaf Scholz ging als Gastredner beim Jahresempfang der Wirtschaft vor allem auf Europa und die Europäische Union ein
Foto: Kristina Schäfer

Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz beim Jahresempfang Wirtschaft und der Kammern 2019 in Mainz

Alleine die Zahl der anwesenden Freiberufler, Unternehmer, Handwerker und ihrer Gäste aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung sowie die Anzahl von 15 gastgebenden Kammern macht den "Jahresempfang der Wirtschaft" alljährlich zu einer beeindruckenden Kulisse. Für die Interessenvertretungen des Mittelstandes formiert sich so ein beeindruckendes Gewicht. Daran änderte auch der Ortswechsel im zwanzigsten Jahr nicht. Im Gegenteil: Die Halle 45, in der bis 1994 noch Panzer repariert wurden, hätte leicht mehrfach gefüllt werden können, so groß war das Interesse.

Hauptgast des Abends war Olaf Scholz, der Bundesfinanzminister und Vizekanzler machte im Jahr des drohenden Brexits und der anstehenden Europawahl den Zustand und die Zukunftschancen Europas zu seinem Thema. Auf die Geschichte des Ortes wie die geografische Lage des Landes nahm er gerne Bezug. "Brüssel und Amsterdam liegen Ihnen näher als Berlin", womit Scholz weniger die Ferne des Berliner Politikbetriebes charakterisierte als die guten Beziehungen des Landes zu den europäischen Nachbarn.

27 Monologe

Doch Scholz hatte nicht nur ein allgemeines Lob Europas und freundliche Worte für Rheinland-Pfalz mitgebracht. Er erinnerte auch daran, dass all dies keine Selbstverständlichkeiten seien. Europa verlange "Haltung und Handlung" von jedem europäischen Bürger.

Haltung und Handlung
Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz

Denn durch Entwicklungen wie den Brexit, durch eine populäre „first“-Mentalität wichtiger Partner, durch aufziehende Handelskonflikte und eine noch nicht vollständig überwundene Schuldenkrise, aber auch durch und die Entwicklung der Weltbevölkerung werde die Einigkeit Europas vielfach auf die Probe gestellt.

Scholz attestierte der politischen Debatte in der EU die Qualität von 28, bald 27 Monologen in jeweils nationalen Kontexten, nötig sei dagegen eine wirklich europäische Debatte, also eine über die nationalen Grenzen hinweg. Sein Mittel dagegen: Zusammenhalt innerhalb und zwischen den europäischen Gesellschaften und die Gestaltung von Handlungsinstrumenten, um die großen Fragen tatsächlich anzugehen. Zu diesen Instrumenten zählte er eine europäische Verteidigungspolitik ebenso dazu wie den Ausbau des Stabilitätsmechanismus für das europäische Finanzsystem zu einem europäischen Währungsfond, das von Emmanuel Macron vorgeschlagene EU-Finanzbudget stellte er für die nächsten Jahre in Aussicht und forderte eine europäische Antwort auf Arbeitslosigkeit. Hinsichtlich der Debattenkultur verwies er auf die föderale Struktur Deutschlands und seine jahrhundertealte Erfahrung mit mehr als einem politischen Zentrum. Dies habe die Fähigkeit zur Konsensbildung gefördert. Diese Erfahrung solle Deutschland in die europäische Debatte einbringen.

Qualität und Selbstverwaltung statt Gewinnmaximierung

Dem Hauptredner voraus ging eine Gesprächsrunde mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer und den drei Kammerpräsidenten Dr. Andreas-Georg Kiefer, MdB Norbert Schindler und Dr. Engelbert Günster. Dr. Kiefer, Landesapothekerkammer, vertrat die Freien Berufe. Er formulierte die Sorge, dass frei floatendes internationales Kapital den deutschen Gesundheitsmarkt durchgreifend verändern könne. Dessen Renditeerwartungen seien nicht in gesellschaftliche Verantwortung verankert. Sie bedrohten daher ein flächendeckendes und bezahlbares Gesundheitssystem. "Gesundheit kann man nicht kaufen. Aber Armut - das ist statistisch erwiesen - ist ein großes Gesundheitsrisiko, schon heute." Der Präsident der Apothekerkammer plädierte vehement für die Unterstützung des freiberuflich geprägten Gesundheitssystems. Mit dem ehrenamtlichen Engagement in den Kammern sah er hohe Qualitätsstandards durch die funktionale Selbstverwaltung gewährleistet. Aber "Die funktionale Selbstverwaltung braucht das Vertrauen der Politik".

Die funktionale Selbstverwaltung braucht das Vertrauen der Politik
Dr. Andreas-Georg Kiefer, Präsident der Apothekerkammer

Moderiert von Daniela Schick, SWR, forderten die Präsidenten der ‚IHK für Rheinhessen‘ und der Landwirtschaftskammer mehr Gewerbeflächen – etwa durch die Nutzung von Konversionsflächen oder Brachen und einen europaweit vergleichbaren Mindestlohn.

Mit Europa schloss auch der Vizekanzler seinen Beitrag. Er postulierte „Europa ist unser wichtigstes nationales Anliegen“ und rief zu einer breiten Beteiligung bei der Europawahl im Mai auf, sie verleihe der Entscheidung Gewicht. Malu Dreyer hatte zuvor in der Gesprächsrunde betont "Die Zukunft ist kein Schicksal" und meinte damit wohl, wir können und müssen sie gestalten.

Die Zukunft ist kein Schicksal
Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD)

  

Archivbeitrag vom 10. Januar 2019