15. Juli 2016

(Noch) mehr Baukultur?

Präsident Gerold Reker spricht in der Augustausgabe 2016 des Deutschen Architektenblattes über die Notwendigkeit von Baukultur. 

Baukultur - das Wort wird inzwischen häufig benutzt, nicht immer ganz durchdrungen und manchmal ist es auch nur ein Lippenbekenntnis. Baukultur, ebenso wie Architektur und Gestaltung, ist nicht allein das Finden eines „schönen Designs“, Baukultur umfasst vieles mehr: das Verständnis für Räume und ihre Wirkung, aber auch ökologische, ökonomische und soziokulturelle Fragen, Fragen der Nachhaltigkeit und Dauerhaftigkeit sowie der Nutzbarkeit - und all dies reibt sich an der gesellschaftlichen Annahme oder Ablehnung.

Unsere Aufgabe als Architekten, Stadtplaner, Innen- und Landschaftsarchitekten ist es, Räume so zu gestalten, dass Menschen sich darin gut fühlen. Gemeint ist nicht das Schickimicki-Gutfühlen aus Szenezeitschriften und Ambientekatalogen. Gute Räume sind anders. Gute Räume lassen den Blick schweifen, lassen den Blick auf Wesentliches zu, gute Räume reizen die Sinne, sie regen an, geben Geborgenheit, lassen uns erholen und Luft zum Atmen - gute Räume machen einen frohgestimmt. Schlechte Räume belasten.

Dahinter steckt ein stetiger Dialog: Wie wollen wir unseren lebenswichtigen Räumen Qualität geben? Wie wollen wir unserer Umwelt mit all ihren Aspekten verantwortungsvoll gestalten? In der öffentlichen Wahrnehmung endet dieser Prozess jedoch immer öfter in der einfachen Formel: „Gefällt mir, gefällt mir nicht!“. Häufig gehört auch bei den Führungen zu den Wettbewerbsergebnissen des Gutenbergmuseums in Mainz sowie anderswo - facebook-like: Daumen hoch, Daumen runter. Eine vereinfachte, oberflächliche Haltung.

Gerade deshalb war es in dieser Wahlperiode so wichtig, das Thema Baukultur mit Verve und Leidenschaft erneut anzugehen. „Gefällt mir, gefällt mir nicht“, ist zu wenig. Es geht um mehr. Die Inhalte des Begriffs Baukultur gehen uns alle an. Vorstand und Vertreterversammlung haben das Thema in der jetzt auslaufenden Wahlperiode daher zu einem Oberthema gemacht und einen Diskussionsprozess forciert, der inzwischen Früchte trägt. Manchem Kollegen scheint das Wort Baukultur schon überstrapaziert, es haben sich aber Zellen gebildet, die wirken. Regionale Zellen häufig, die verstanden haben, welche Inhalte das Sprechen über Baukultur vermittelt, wenn man über Begriffe wie demografischer Wandel, Wegzug, Leerstand, Zuwanderung, Schwarmstadt, aber auch Generationengerechtigkeit, Migration, Integration oder Inklusion nachdenkt und diskutiert.

Baukultur braucht ein Umfeld, das von einer hohen Sensibilität gekennzeichnet ist. Diese Sensibilität wächst und die Lippenbekenntnisse weichen einer zunehmenden Akzeptanz. Man muss es nur immer wieder erklären. Dass es Wirkung zeigt, belegt beispielsweise der aktuelle, neue Koalitionsvertrag, in dem steht: „... Hinzu kommt unser Anspruch nach Ästhetik und Architektur. Deswegen verstehen wir es als Aufgabe, die Baukultur im Land weiter zu fördern und die enge Zusammenarbeit mit den Architekten und dem Zentrum für Baukultur zu suchen...“ .

  Diese Aussage ehrt den Berufsstand und zeigt den richtigen Weg. Es bedarf des kontinuierlichen Dialogs aller am Planungs- und Bauprozess Beteiligter, um unsere Umwelt gut zu gestalten und um Lebens- und Aufenthaltsqualität zu generieren. Mit dieser Haltung erschließen sich auch die Begriffe „Architektur“ und „Ästhetik“ anders, werden diese auch für Nichtarchitekten verständlicher. Ästhetik (von altgriechisch aísthesis) bedeutet wörtlich: Lehre von der Wahrnehmung bzw. vom sinnlichen Anschauen.

Landschaften, Städte und Gebäude schaffen einen Horizont: für das Verstehen der menschlichen Daseinsbedingungen und für die Auseinandersetzung mit sich selbst. Anstatt lediglich optisch verführerische Objekte zu schaffen (Bilbao-Effekt), verbindet, vermittelt und erzeugt richtig verstandene Architektur Sinnhaftigkeit, und das in einer Zeit (fast) reiner Zweckhaftigkeit.

Das Zentrum Baukultur in Mainz hat mit seinen Veranstaltungen vor Ort und in ganz Rheinland-Pfalz in den vergangenen Jahren gezeigt, dass es nicht bei Lippenbekenntnissen bleiben muss. Wettbewerbe wie „Mehr MITTE bitte!“ und „Sozial - Schnell - Gut“, aber auch das Projekt „Baukultur regional“ oder das „Bündnis für bezahlbares Wohnen“ belegen, dass die Inhalte des Themas Baukultur zunehmend verstanden werden. 

 

Archivbeitrag vom 15. Juli 2016