10. Dezember 2021

Nach der Flut – Aufbauhilfe im Ahrtal

Zerstörte Infrastruktur in Bad Neuenahr
Zerstörte Infrastruktur in Bad Neuenahr
Foto: Annette Müller, Mainz

Fast ein halbes Jahr ist es her, dass unvorstellbare Wasser- und Schuttmassen das Ahrtal verwüstet haben. Seitdem helfen Architektinnen und Architekten im Flutgebiet: Sie beraten und erstellen Gutachten.

Es geht bergauf. Die groben Aufräumarbeiten sind weitgehend abgeschlossen, die Schadensfeststellung und der Wiederaufbau im Ahrtal haben begonnen. Seit der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 haben ungezählte Menschen, Organisationen und Institutionen geholfen, darunter auch die Architektenschaft in Rheinland-Pfalz.

Aktuell organisiert die Architektenkammer zusammen mit dem Land und der Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB) zwei Hilfsangebote: eine bautechnische Vor-Ort-Beratung und die Schadensbegutachtung, denn seit Ende September können die Betroffenen Hilfezahlungen bei der ISB Rheinland-Pfalz beantragen. Über 15 Milliarden Euro sollen so in den Wiederaufbau fließen, und dort  auch Privatleuten und Unternehmen zugutekommen. Flut-?opfer bekommen bis zu 80 Prozent der Schäden erstattet, für betroffene Menschen ohne finanzielle Rücklagen gibt es zudem eine Härtefallregelung.


Gutachten und Beratung

Um Wiederaufbauhilfe beantragen zu können, muss ein Schadensgutachten vorliegen. Allein 166 freischaffende Architektinnen und Architekten aus Rheinland-Pfalz, aus Hessen und aus Nordrhein-Westfalen haben sich auf einen Aufruf der Architektenkammer gemeldet und erstellen nun die benötigten Gutachten über beschädigte und zerstörte Gebäude im Flutgebiet. Dazu haben sie sich in ortsbezogene Listen eingetragen, die in einem gemeinsamen Schadensportal der Architektenkammer und der Ingenieurskammer Rheinland-Pfalz (www.diearchitekten.org/fluthilfe) abgerufen werden können. Die Geschädigten haben so die Möglichkeit, direkt Kontakt mit den jeweiligen Büros aufzunehmen.  

Daneben beraten noch einmal rund 75 Architektinnen und Architekten Flutopfer an 16 Beratungsstellen, die gemeinsam mit dem Wiederaufbaustab der Landesregierung über das Ahrtal verteilt eingerichtet wurden. Damit komplettieren sie ein dreigliedriges Erstberatungsangebot:
- als Gutachterinnen und Gutachter erstellen Architektur- und Ingenieurbüros Schadensgutachten für die Beantragung der Hilfsgelder des Landes.
- durch die ISB geschultes Beratungspersonal hilft vor Ort bei den digitalen Anträgen. So können auch Ältere oder Menschen ohne Computer ihren Antrag stellen. Inzwischen sind rund 12.000 Anträge auf dem Weg.
- für die Geschädigten kostenlos ist die bautechnische Vor-Ort-Beratung durch Architektinnen und Architekten. Diese schauen sich die betroffenen Gebäude an, beantworten Fragen zur Sanierung und zum hochwasserangepassten Bauen und zeigen Modernisierungsmöglichkeiten auf.


Vernetzt arbeiten

Immer wieder herausfordernd ist die schiere Größe der Aufgaben, die der Wiederaufbau mit sich bringt. Infrastruktur, Denkmäler, private und öffentliche Gebäude - alles soll auf einmal angepackt, saniert oder wiederaufgebaut werden - auf rund 40 Kilometern entlang der Ahr. Baukulturelle Ansprüche, technische Ertüchtigung, Hochwasseranpassung, Fragen der Nachhaltigkeit und der Energieeffizienz - Grundbedürfnisse nach einer trockenen und warmen Wohnung für den Winter, nach funktionierenden Geschäftsräumen, Schulen, Arztpraxen und Verwaltungen verschneiden sich mit dem Anspruch, aus der Katastrophe heraus eine Modellregion zu entwickeln. 

Ohne intensiven Austausch und den engen Kontakt vieler ist das nicht zu schaffen. Daher steht die Architektenkammer in engem Kontakt mit dem Wiederaufbaustab und der Landesregierung, der ISB, der ADD und der SGD Nord, sowie mit anderen Kammern - um hier nur einige zu nennen.


Fachinformationen bündeln

Beim Vernetzten ging es zunächst um Fachinformationen. So hatte etwa die GDKE (Generaldirektion Kulturelles Erbe) Rheinland-Pfalz gemeinsam mit der Architektenkammer, der Handwerkskammer und dem Institut für Steinkonservierung Mainz schon am 23. August zu einem „Tatort Altbau – Nach der Flut“ eingeladen. Im Zen­trum der Videokonferenz stand die Frage, wie beschädigte Gebäude, darunter viele Denkmäler, gesichert und saniert werden können. Im Einzelnen ging es darum, mit Feuchteschäden, Schimmelbildung, Kontaminierung durch Fäkalien und Heizöl oder mit statischen Probleme umzugehen. Ein heikler Punkt ist die Trocknung. Wie soll diese erfolgen? Technisch oder natürlich? Wie vermeidet man Schimmelbildung einerseits oder Folgeschäden durch zu rasche Trocknung andererseits? Und wie lange muss ein Gebäude überhaupt getrocknet werden? Dipl.-Ing. Gerwin Stein von der Beratungsstelle für Handwerk und Denkmalpflege in Fulda erwartet etwa für Strohlehm im Fachwerksbau eine Trocknungsdauer von mehreren Monaten. Die dabei entstehenden Pilze könnten anschließend zumeist problemlos entfernt werden, sagte der Experte. Stein warf auch einen Blick in die Zukunft: „Wandflächenheizungen bei Fachwerkhäusern haben sich bereits bewährt. Ihr Vorteil: Sie reduzieren im Allgemeinen die Holzfeuchte.“

Inzwischen haben zwei Fachveranstaltungen zum Thema der Schadensbegutachtung stattgefunden: Nach dem Start Ende September folgte Mitte November ein erster Erfahrungsaustausch. Wenn Gutachterinnen und Gutachter von ihren Erfahrungen berichten, ist immer wieder von tiefster Verunsicherung und der Fassungslosigkeit der Betroffenen zu hören. Weil es die Architektinnen und Architekten im Flutgebiet nicht mit „gewöhnlichen Bauherren“, sondern mit „Menschen in Not“ zu tun haben, sei sehr viel Empathie gefordert. Schnelle Hilfszahlungen sind für viele Geschädigte essentiell, dennoch muss bei der Schadensfeststellung eine gute Balance zwischen Schnelligkeit und Gründlichkeit gefunden werden. Neben steigenden Baukosten und der schwer abschätzbaren Dauer der Trocknung sind Materialknappheit und eine enorme Auslastung der Handwerksbetriebe Herausforderungen. Hinzu kommen in manchen Fällen auch unseriöse Wucherangebote. Problematisch und im Einzelfall bitter für die Betroffenen ist der Umgang mit bereits erfolgten Sanierungen, die nicht den Regeln der Technik entsprechen und daher zurückgebaut werden müssen.


Guter Rat ist kostenlos

Die Architektinnen und Architekten an den Infopoints schätzen den Bedarf einer baufachlichen Beratung als sehr hoch ein - alleine: Nicht immer erreicht das hervorragende Angebot alle. Flyer, Plakate und Schilder machen nun im Katastrophengebiet auf das Angebot aufmerksam.  Denn vor der Sanierung braucht es ein gutes Konzept. Und am besten ein planendes Architekturbüro. MEHR