07. Februar 2023

Mit der Kraft der Vielen...

Talkrunde mit Joachim Rind und Ministerpräsidentin Malu Dreyer
"Die Zukunft liegt im Gebäudebestand,“ so Kammerpräsident Joachim Rind anlässlich des Jahresempfangs 2023
Foto: Kristina Schäfer, Mainz

...aber ohne Lebenslügen durch die Vielfachkrise: Jahresempfang der Wirtschaft und der Kammern 2023 in der Mainzer Rheingoldhalle

Nach zweijähriger Pause ging der Jahresempfang der Wirtschaft in der Mainzer Rheingoldhalle am 2. Februar wieder an den Start, als hätte es keine Auszeit gegeben: Die frisch renovierte Rheingoldhalle war bestens gefüllt, das Foyer nach dem Empfang zum Bersten voll, enges Tête-à-tête von Politik und Berufspolitik, Wirtschaft und Verwaltung, Medien und Kultur...

Festredner des Abends war der Journalist und ehemalige Chefredakteur des ZDF, Dr. Peter Frey, der unter dem Titel „Zeitenwende und deutsche Lebenslügen“ in knapp 40 Minuten einen Parforceritt durch die Weltpolitik mit der journalistischen Analyse deutscher Befindlichkeiten verschmolz. An Ende vermisste wohl niemand im Publikum die sonst mit hochrangiger Bundespolitik besetzte Redeposition – im Gegenteil: Abseits von Parteilinien und erfrischend direkt schonte Frey weder Regierung noch Opposition in einer dezidiert politischen Rede.

Zuvor hatte Kammerpräsident Joachim Rind angesichts der zu bewältigenden Klimakrise zu einer Bauwende aufgerufen: „Die Zukunft liegt im Gebäudebestand,“ so Rind. „Wenn wir die Klimaziele zwischen 2035 und 2040 erreichen wollen, brauchen wir ein wirkliches Umsteuern bei allen am Bau Beteiligten. Der Fokus muss weg vom Neubau mit seinem großen CO2-Fußabdruck hin zur Entwicklung und Pflege des Gebäudebestands und seiner Potenziale.“ Dass dies vor allem mit kluger Planung von Architektinnen und Architekten aller Fachbereiche zu erreichen sei, daran ließ er keinen Zweifel, forderte aber von der Landespolitik entsprechende Weichenstellungen: „Zero Waste ist keine Utopie. Lösungen für dieses neue Bauen sind an den Hochschulen und in vielen ambitionierten Architekturbüros bereits entwickelt. Was uns noch hindert, sind alte Normen und Regelwerke und natürlich Haftungsfragen. Deshalb brauchen wir Prototypen. Wir müssen gemeinsam mit den Hochschulen, den Forschungsinstituten und dem Handwerk zeigen, was möglich ist. Meine Forderungen an die öffentliche Hand: Regelwerke anpassen und selbst ausschließlich vorbildhaft bauen. Nur so werden rasch genügend Erfahrungen gesammelt, die dann in der Breite des Baustellenalltags Akzeptanz finden.“

Wenn wir die Klimaziele zwischen 2035 und 2040 erreichen wollen, brauchen wir ein wirkliches Umsteuern bei allen am Bau Beteiligten. Der Fokus muss weg vom Neubau mit seinem großen CO2-Fußabdruck hin zur Entwicklung und Pflege des Gebäudebestands und seiner Potenziale.
Joachim Rind

Mit Joachim Rind diskutierten Ministerpräsidentin Malu Dreyer, IHK-Präsident Peter Hähner und der Präsident der Landesärztekammer Dr. Günther Matheis. Markus Appelmann, SAT1, hatte die Moderation der Talkrunde und des Abends übernommen. Aus dem Gesamtknäuel der Krisen, die Dr. Frey im Anschluss an die Talkrunde durchmaß, hatten sich die Talkgäste vor allem der Themen Energie, Klima und Fachkräftemangel angenommen. Dr. Matheis diagnostizierte angesichts der noch immer hohen Energiepreise und des riesigen Fachkräftemangels im Gesundheitsbereich die Verwaltung des Mangels als zukünftig zu erwartenden Dauerzustand. Sein Kollege von der IHK für Rheinhessen, Peter Hähner, sah zwar die Wirtschaft im Allgemeinen trotz Energiepreisschock, Lieferkettenproblemen und Ukrainekrieg recht gut aufgestellt, fürchtete aber seinerseits im Fachkräftemangel eine große Wachstumsbremse für die kommenden Jahre. Die momentan überraschend stabile wirtschaftliche Situation war für die Ministerpräsidentin ein Hinweis darauf, dass beispielsweise die Energiekrise von den Unternehmen als positiv wirkender Anreiz, besser zu werden, aufgenommen wurde. Angesichts der Herausforderungen habe man, so Dreyer, unter Beweis gestellt, wie innovativ und flexibel man sein könne. Wenn LNG-Terminals binnen weniger Monate geplant, genehmigt und realisiert werden könnten, fragte sie auch an die eigene Adresse, warum viele andere Prozesse quälend langsam vorangingen? „Wir müssen einfacher werden und umdenken.“ Und sie rief zu Zukunftsmut auf. Nötig, die vielfältigen Krisen zu bewältigen, sei „die Kraft der Vielen.“

Diesem Wunsch hätte sich Dr. Peter Frey wohl anschließen können, zeichnete in seinem Vortrag aber zunächst ein skeptischeres Bild der Lage. Ausgehend von der Abfolge: Flüchtlingsjahr 2015, Corona, Ukrainekrieg und Energiekrise, Inflation und Klimawandel sah er im Krisenhaften einen neuen Normalzustand, den in seiner Komplexität und Herausforderung auszuhalten, die Demokratien vor neue Herausforderungen stelle. Positiv: Im laufenden Winter habe man in Deutschland die Prüfung bisher bestanden: Das Geschäftsmodell derer, die aus bereit geschürter Angst und unreflektierter Wut ihr destruktives Kapital schlagen, sei vorerst nicht aufgegangen, der heiße Herbst ausgeblieben.

Die abebbende Pandemie habe am Ende bewiesen, dass demokratische Staaten mit ihrem diskursiven, suchenden, oft auch als Flickenteppich gescholtenen, vielgestaltigen Vorgehen am Ende und trotz aller Fehler recht gut durch die Zeit gekommen seien. Auch, was Mainz, Rheinland-Pfalz und Deutschland Migrantinnen und Migranten verdanke, sei deutlich geworden. Endlich ein offenes Einwanderungsland zu werden, sei essentiell. Es sei höchste Zeit, bürokratische und vor allem Mentalitätsgrenzen zu überwinden, die große Aufgabe zur Überwindung der ersten Lebenslüge deutscher Politik seit den 1960er Jahren.

Bisher waren wir bei der Krisenbewältigung besser, als wir uns das selbst zugetraut haben
Dr. Peter Frey

Allerdings habe gerade die Coronakrise auch vor Augen geführt, wie verwundbar ein demokratisches Gemeinwesen sein kann. Extremisten, aber auch ein Protest aus Hilflosigkeit, aus der Sehnsucht nach einer einfachen Welt heraus habe sich merkbar Bahn gebrochen. Während er den ersten gegenüber von allen Eindeutigkeit und eine klare Haltung – „Systemwechsel ist keine legitime Forderung“ – verlangte, warb er dafür, um diejenigen zu kämpfen, die sich schlicht nach weniger Krise und einem geordneten Früher sehnten – gleichgültig, ob es das jemals gegeben haben mag.

Drei weitere Lebenslügen deutscher Politik bezog Frey auf Russland, auf China und auf die europäische Sicherheitspolitik. Deutschland habe gegen jede Evidenz (Tschetschenienkrieg, Überfall Georgiens, Syrienkrieg, Besetzung der Krim und schließlich dem Überfall auf die gesamte Ukraine) viel zu lange an einem romantisierenden Bild von Putins Russland festgehalten und im Konflikt mit vielen europäischen Nachbarn blind auf billiges russisches Gas vertraut. Mit der Wahrnehmung Chinas als unpolitischem Marktpartner, mit dem eine offene Handelspolitik abseits geopolitischer Interessen möglich sei und mit dem Outsourcen europäischer und deutscher Sicherheitspolitik in die USA benannte er die Lebenslügen zwei und drei. Alle drei aufzulösen, ohne in undemokratische und populistische Fallen zu tappen, darin sah er die herausforderndsten Aufgaben für die deutsche Zivilgesellschaft in den kommenden Jahren. Das Populistische, alle Institutionen und staatliche Prozesse Verachtende, stelle mit seinen vermeintlich einfachen Maßnahmen in Krisenzeiten eine nicht zu unterschätzende Gefahr des abwägenden, austarierenden, scheinbar quälend langsamen demokratischen Prozesses dar, so Frey.

Von der Wirtschaft forderte Frey eine Neuausrichtung. Der Energiekrise, Lieferkettenproblemen und der fatalen Abhängigkeit von totalitären Systemen sei in einer Deglobalisierung nicht adäquat zu begegnen. Es gelte, Globalisierung neu zu denken: strategischer, ökologischer, ökonomisch stabiler und sozial. Mit seinem Kollegen Claus Hulverscheidt von der Süddeutschen Zeitung forderte er daher eine Re-Globalisierung. Dass dies möglich sei, daran hatte der ehemalige Chefredakteur des ZDF keine Zweifel, denn „bisher waren wir bei der Krisenbewältigung besser, als wir uns das selbst zugetraut haben.“