01. Juli 2021

Neue Perspektiven auf Koblenz

eine Menschenreihe auf der Fußgängerbrücke.
Auf der Fußgängerbrücke Cusanusstraße. "walk about... talk about... Koblenz" mit Bertram Weisshaar im Juni 2021.
Foto: Rolf Karbach, Koblenz

"walk about... talk about... Koblenz", ein geführter Stadtspaziergang mit Spaziergangsforscher Bertram Weisshaar vom Büro Latent am 27. Juni 2021. Im Livestream gab es die Möglichkeit einer virtuellen Teilnahme.

Paris und Wien haben das Idealbild der "Viertelstundenstadt" bereits als Zielvorstellung formuliert. Auch im Masterplan für die Stadt Koblenz steht, dass nicht das Auto, sondern Fußgänger Maßstabsgeber der Stadtplanung seien sollen.

Die von Bertram Weisshaar, Atelier Latent aus Leipzig, ausgesuchte und intensiv vorbereitete Route nahm die Ansätze einer Viertelstundenstadt in den Blick – folgte also jener Sehnsucht der Menschen danach, alle Ziele des Alltags innerhalb von einer Viertelstunde zu Fuß zu erreichen. Aber nicht nur das: Viele Aspekte einer bürgerfreundlichen Stadtgestaltung wurden erlebbar gemacht. Beim Wiederaufbau nach dem Krieg dominierten in Koblenz die Ideale der autogerechten Stadt. Die Viertelstundenstadt rückt aber die Nähe als maßgebliche Größe von Lebensqualität in der Stadt ins Zentrum von Verkehr und Urbanismus.

Joachim Rind, Vorstandsmitglied der Architektenkammer und des Schaufenster Baukultur Koblenz freute sich bei seiner Begrüßung über die enorme Resonanz. Der "walk about" war mit etwa 80 Teilnehmern völlig ausgebucht. Als prominenten Gast konnte David Langner, Oberbürgermeister der Stadt Koblenz, begrüßt werden.

Auf Youtube kann jetzt die live gestreamte Veranstaltung noch einmal nacherlebt werden: Link MEHR

Die erste Station der Route war ein großräumiger Innenhof einer Blockrandbebauung aus den 1960er Jahren: ein bisschen Grün, Rosen, eine große Platane, ein Spielplatz, aber auch viele Reihengaragen mit den notwendigen Zufahrten. Schnell wurde klar, "dass hier eine Menge mehr drin wäre", so der Spaziergangsforscher. Wie bei den folgenden Stationen bezog Weisshaar nun die Teilnehmer mit ein. In zwei Minuten sollten zwei Gruppen jeweils Argumente für und gegen eine Nachverdichtung finden. So bereits geschehen mit einem punktförmigen Stadthaus, das in den Innenhof gebaut wurde. Mehr gemeinschaftliches Grün oder mehr innerstädtisches Wohnen? Viel Richtiges könnte man sich vorstellen, fasste Weißhaar die Statements zusammen. Hierüber waren sich beide Gruppen allerdings einig: die Garagen sollten raus.

Nächste Station: ein sonntäglich verwaister Parkplatz vor einem Supermarkt. Nachdem Quartett-Spielkarten mit Bäumen darauf an die Teilnehmer verteilt wurden, nahm jeder einen Parkplatz ein, so wie man ihn beim Besuch des Marktes mit seinem Auto belegen würde. Eindrücklich wurde klar, wie hoch der Platzbedarf für Parkflächen ist und wie viele Bäume hier anstatt der versiegelten Flächen gepflanzt werden könnten. Dabei wurde nebenbei gelernt, welche Baumarten aufgrund von Hitze und Trockenstress in der Stadt noch eine Zukunft haben.

Im weiteren Verlauf des Spaziergangs wurde an vielen Stellen deutlich, wie stark Stellplätze und Fahrbahnen den öffentlichen Raum beanspruchen und wie wenig innerstädtische Grünflächen den Anwohnern zur Verfügung stehen. Für das Weglassen von nur zwölf Parkplätzen könne man wertvolle grüne "Oasen" schaffen, die die Lebensqualität in der Stadt deutlich steigerten, erläutete Weisshaar. Qualitätsvoll bepflanzte Mittelstreifen oder Verkehrsinseln seien für die Autofahrer kaum erlebbar und für die Fußgänger schwer zu erreichen. Gehwege weisten häufig zu geringe Breiten auf, um sich sicher und wohl zu fühlen. Unterführungen seien wenig attraktiv, aber stellenweise die einzige Möglichkeit um vielspurige Straßen barrierefrei zu überwinden.

Beim Blick von der Fußgängerbrücke auf die mehrspurige Cusanusstraße wagte Weißhaar eine Utopie: "Wäre ich in 70 Jahren noch einmal hier, dann stelle ich mir vor, das hier wäre eine Zoolandschaft, unter uns das Bärengehege."

Weisshaar übergab regelmäßig das Mikrofon an David Langner, der spontan Hintergrundinformationen gab und Stellung bezog. So den Aspekt von Koblenz als Einpendlerstadt und der Rolle des ÖPNV. "Wir haben hier große, breite Straßen - darüber haben sich die Koblenzer in den 1950er und 1960er Jahren gefreut. Zuerst in den letzten Jahren sind der Fahrradfahrer und die Fußgänger stärker in den Fokus gerückt und die Politik reagiert darauf." Alleine das Wegnehmen von Fahrbahnen könne jedoch nicht die Lösung sein, so Langner.

Am Forum Mittelrhein endete die Tour für die virtuellen Teilnehmer. Für die Gruppe vor Ort ging es weiter mit der Seilbahn auf die Festung Ehrenbreitstein, wo das Schaufenster Baukultur sein Zuhause hat. Hier erwarteten die Besucher die aktuelle Ausstellung zum Tag der Architektur 2021  "18 aus 81" und ein Glas gekühlter Wein. Ein willkommener Abschluss für eine rundum gelungene Baukulturveranstaltung.

Bertram Weisshaar arbeitet seit den 1990er Jahren freiberuflich als Spaziergangsforscher. Der ausgebildete Fotograf und Landschaftsplaner nahm schon viele Menschen mit auf seine gestalteten Spaziergänge und mehrtägigen Wanderungen. Seine „Gedankengänge“ suchen dabei stets den ungewöhnlichen Blick und überraschende Perspektiven.
Die Spaziergangswissenschaft beschäftigt sich mit der Erfassung und gedanklichen Einordnung von Umwelt. Ein Anspruch, der das Spazierengehen in den Rang eines Forschungsinstrumentes erhebt, denn „Raum ist nur durch die eigene körperliche Bewegung durch denselben erfahrbar“, so Weisshaar.

Die Veranstaltung wurde über das Sonderbudget für die Öffentlichkeitsarbeit der Kammergruppen der Architektenkammer Rheinland-Pfalz finanziert. Die Vergabe erfolgt regelmäßig durch den Vorstand im Wettbewerb der Kammergruppen untereinander.