Offenkundig war es sein Herzensthema, das er profund und mitreißend durchdeklinierte: Zwischen den Polen Innovation und Stabilität spannte er sentenzenreich auf, warum Europa, die europäische Einigung, so unverzichtbar und beispielhaft sei.
19. Februar 2018
Europa heißt die Antwort
In einer globalisierten Welt mit ihrem rasanten Wandel und den teils verstörenden Zumutungen an die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen biete der Rückzug in Ressentiment und Nationalismus - so Lammert - nur scheinbar ein warmes, übersichtliches Plätzchen. In Wahrheit sei nicht Abschottung die Antwort auf die Zumutungen der Welt, sondern Kooperation. Den Wunsch nach Stabilität, auch nationalstaatlicher Stabilität, tat er dabei nicht schlechthin ab. Dennoch machte er klar, dass die Zeiten unwiderruflich andere seien. Glanz und Elend von Innovationen sei am Beispiel der Digitalisierung auf den Kapitalmärkten besonders gute zu besichtigen: Im vordigitalen Zeitalter der 1990er Jahre sei das weltweite Verhältnis von Real- zu Finanzwirtschaft noch das von ca. sieben zu eins zugunsten der Realwirtschaft gewesen. Der reale Gütermarkt lag damals weltweit, so Lammert, bei rund 20 Billiarden US Dollar. Der Markt der synthetischen Finanzprodukte lag bei etwa 3 Billiarden US Dollar. Heute, so Lammert weiter, stehe einer Realwirtschaft von rund 70 Billiarden US Dollar weltweit ein Finanzsektor von rund 650 Billiarden US Dollar gegenüber. Aussichtslos, dies national regeln zu wollen. Unfassbar, welche Hebelwirkung unzureichend regulierte Finanzmärkte dieser Größe weltweit entfalten können.
Vor dem Hintergrund dieser Digitalisierung und Globalisierung gebe es die Möglichkeit, die eigenen Belange isoliert in Nationalstaaten zu lösen, einfach nicht mehr. Daraus leitete Lammert als lakonische Gewissheit ab: "Mit der Globalisierung in der Politik ist es in etwa so, wie mit der Schwerkraft in der Physik - man muss sie nicht mögen, aber es ist nützlich, sich darauf einzustellen." Und er bezeichnete die Europäische Union als die wichtigste Innovation des 20. Jahrhunderts - eines Jahrhunderts zweier Weltkriege, in dem die kulturelle und wirtschaftliche Vorherrschaft Europas in der Welt endgültig verloren ging. Umso problematischer wertete er die Fliehkräfte, die der Europäischen Union zu einem Zeitpunkt besonders stark zusetzen, zu dem Einigkeit und Kooperation so dringend nötig seien. Auch, aber nicht alleine auf den Brexit bezogen formulierte er:
Der vermeintliche Befreiungsschlag von tatsächlichen oder vermeintlichen Fesseln und Abhängigkeiten (in Europa) wird mit dem Preis der Irrelevanz bezahlt.
Die rund 200 in der UNO versammelten Staaten unterschieden sich hinsichtlich der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts von der Digitalisierung bis zum Klimawandel nicht mehr nach Groß und Klein oder Süd und Nord, sondern im Grunde danach - so Lammert -, ob sie verstanden hätten, längst nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene souverän zu sein und solchen, die dies noch nicht begriffen hätten. Die Antwort auf das Souveränitätsproblem sei Europa. Es gelte Souveränität zu teilen, um gemeinsam mehr Einfluss auf das Weltgeschehen zu haben.
Bildung, Fachkräfte, Bürokratieabbau
Zuvor hatten die Vizepräsidentin der Ingenieurkammer, Wilhelmina Katzschmann, der Präsident der Steuerberaterkammer, Edgar Wilk, und der Präsident der Handwerkskammer für Rheinhessen, Hans-Jörg Friese, moderiert von Markus Appelmann (SAT 1) über Bildung, Fachkräftemangel und Bürokratieabbau diskutiert. Auf die Frage Appelmanns, was man sich wünsche, wollte Katzschmann den Ausbau der Infrastruktur viel stärker vorantreiben. Friese schlug ein verbindliches handwerkliches Fach in allen Schularten vor und Wilk kritisierte die Dokumentationsflut.
Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Rheinhessen, Dr. Engelbert Günster, hatte sich in seiner Begrüßung von der Politik gewünscht: "Kernthemen couragiert anpacken". Dazu zählte er Investitionen in die Bildung, den Ausbau der digitalen und der Verkehrsinfrastruktur, innere und äußere Sicherheit und eine Steuerentlastung für Bürger und Unternehmen.
"Ja!" Zum Bibelturm
Das beherrschende Thema in den Foyergesprächen nach dem offiziellen Veranstaltungsteil im Saal war natürlich Lammerts Rede. Gleich danach folgte aber ein spezifisch mainzerisches Thema: Der erste Bürgerentscheid in der Geschichte der Stadt zur Realisierung des Wettbewerbsergebnisses aus dem Architektenwettbewerb zur Sanierung und Erweiterung des Gutenberg-Museums. Inzwischen hat sich neben der Kritiker BI in Mainz auch eine Initiative gegründet, die sich als "Freundeskreis Mainz für Gutenberg" für die vollumfängliche, konsequente Realisierung des Wettbewerbsergebnisses ausspricht. Zahlreiche Besucherinnen und Besucher des Jahresempfangs dokumentierten einem Button ihre Unterstützung und sagten "Ja zum Bibelturm!". MEHR
Rede verpasst? Sie wurde dokumentiert!
Die Rede von Prof. Lammert ist in voller Länge auf YouTube dokumentiert: MEHR
Archivbeitrag vom 19. Februar 2018